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Erziehender Unterricht

1.0 Das Problemfeld

Die Berliner Rahmenpläne heißen Rahmenpläne für Unterricht und Erziehung. Damit wird deutlich, dass Schule nicht auf Unterricht allein beschränkt ist und auch nicht beschränkt werden darf.

Dieser Gedanke ist nicht neu. Schon Johann Friedrich HERBART (1776 - 1841), der Begründer der modernen Unterrichtswissenschaft, hat in den Mittelpunkt seines pädagogischen Konzepts den „erziehenden Unterricht" gestellt.
     Zu fragen ist jedoch nach einem aktuellen und in der Gegenwart sinnvollen Ausformung dieses Konzepts. Eine mögliche Antwort lautet in thesenhafter Zuspitzung:

Erziehung in der Schule konkretisiert sich als

  • Erziehung im Unterricht,
  • Erziehung durch Unterricht.

Diese These bedarf der Entfaltung. Das geschieht im Anschluss an Erich E. GEISZLER (1984)

2.0 Was ist erziehender Unterricht ?

Erziehender Unterricht kann Verschiedenes meinen. Mithin sind folgende Aspekte auseinanderzuhalten:

2.1 Wissen als Grundlage von Entscheidungen und Handlungen

„Erziehender Unterricht" bedeutet einmal - im Sinne von HERBART - dass der Schüler lernt, das im Unterricht gewonnene Wissen auf konkrete Entscheidungsprozesse anzuwenden. Es geht dabei um sachangemessene Urteile aufgrund vermittelter Wissensbestände, nach Möglichkeit in Handlungsvollzügen.

Das ist ein Bereich, der in unserer Schulwirklichkeit bedauerlicherweise zu kurz kommt, auf den hin unsere Lebenspläne kaum konstruiert sind, obwohl er von hoher Bedeutung ist. Dabei wird nicht nur Bildungswissen in Anwendung überführt. Wie immer bei solchen Prozessen ist auch die Rückwirkung bedeutsam, dass nämlich häufig erst in der Anwendung sich der Bedeutungsgehalt eines Wissens voll erschließt. So zeigt das bekannte „docendo discimus" - selber nur ein Spezialfall dieser allgemeinen Erfahrung - beispielhaft, dass Anwendung nicht nur ein abschließender, sondern auch ein rückwirkend strukturierender Lernabschnitt ist.

Leider bietet, wie eben erwähnt, unsere heutige Schulwirklichkeit mit der Art ihrer Unterrichtsorganisation für diesen Bereich verhältnismäßig wenig Raum. Wenn irgendwo, ist hier das Planspiel am Platze (als didaktisch arrangierbare Handlungsform) wie auch der Projektunterricht (der oft fälschlicherweise an die Stelle eines systematischen Lehrganges geschoben wird; in Wahrheit ist er dessen abschließender, in Handlungsbereiche hinüberleitender Teil).

2.2 Der Lehrer als Erziehungsfaktor und Modell

„Erziehender Unterricht" kann zweitens meinen, jene von der Person des Lehrers ausgehenden allen Unterricht ständig durchziehenden Einwirkungen erzieherischer Art, wie Lob, Tadel, Strafe, Ermunterung, Hilfe, Beratung usw. Dabei ist zu beachten wichtig, dass nicht nur die bewussten ausdrücklich vom Lehrer ausgehenden intentionalen Maßnahmen (direkte Erziehungsmittel) eine Rolle spielen, sondern auch die mehr funktionalen wie Spiel-, Arbeits- und Wettbewerbssituationen, außerdem die Stilformen des Lehrens, die ebenfalls weitreichende erzieherische Wirkung besitzen. Auch Situationen des Erfolgs bzw. Misserfolgs zeitigen erzieherisch bedeutsame Einflüsse ermutigender oder entmutigender Art.

2.3 Erziehungswirkungen des Unterrichts

„Erziehender Unterricht" meint schließlich - in einer dritten besonders wichtigen Bedeutung - Einstellungen und Fertigkeiten, die sich im Zusammenhang mit Erfahrungen ausbilden, die allem Unterricht inhärent sind.

Drei ragen besonders heraus, die man dann auch als besondere mit schulischen Lernprozessen verbundene fachübergreifende Erziehungsziele bezeichnen kann.

  • sachbezogene Persönlichkeitsqualitäten:
    Sachlichkeit, Nüchternheit, kritische Urteilsfähigkeit, Ausdauer;
  • den Mitmenschen zugewandte Persönlichkeitsqualitäten:
    sie liegen im Vorurteilsabbau und der Vorurteilsverhütung (Ambiguitätstoleranz), in der Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen (acceptance, Nächstenliebe), in der schon genannten Fähigkeit und Bereitschaft, eigene Vorteile zugunsten anderer nicht wahrzunehmen (Altruismus versus Egoismus);
  • auf sich bezogene Persönlichkeitsqualitäten:
    sie zeigen sich in der bekannten Frustrationstoleranz, das heißt der Fähigkeit, nicht sofort affektiv zu reagieren, sondern vielmehr Überlegung der Reaktion vorausgehen zu lassen.
    Das bedeutet, dass dieser Fähigkeit Feldunabhängigkeit vorausgeht.
         Diese setzt voraus, dass man die eigenen situativ erregbaren Affekte und Emotionen zu zügeln vermag -Selbstbeherrschung -, dass der eigene Wille einerseits imstande ist, eine auf Sachlichkeit fundierte Einsicht zu gewährleisten, sich andererseits diesen durch Einsicht gewonnenen Urteilen des Verstandes in seinen Handlungen unterwirft.

3.0 Erziehungsziele

Aufgrund dieser Überlegungen ergibt sich folgender Mindestkatalog von Erziehungszielen.

  • Arbeitstugenden:
    o Fähigkeiten zum selbständigen Planen, Ausführen, Kontrollieren von Arbeiten;
    o Fähigkeiten zur selbständigen Informationsbeschaffung, -verarbeitung, -kritik;
    o Fähigkeiten der Person in den jeweils dazu notwendigen Arbeitsprozessen
       sachlich,   konzentriert und ausdauernd arbeiten zu können.
  • Soziale Qualitäten:
    o die Fähigkeit, sich von Vorurteilen zu entfernen
       und neue Vorurteile kritisch abzuwehren,
    o die Fähigkeit, andere zu respektieren
       und sie unabhängig von ihrer sozialen Position und weltanschaulichen Richtung
       als Mitmenschen zu akzeptieren,
    o die Fähigkeit, für andere einzutreten und ihnen Vorteile zukommen zu lassen,
       die eventuell eigenen Verzicht verlangen.
  • Persönliche Qualitäten:
    o Fähigkeit zur Frustrationstoleranz,
       Misserfolge auffangen zu können,
    o Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz,
       aus komplexen Situationen nicht zu rasch einseitige Urteile zu ziehen,
    o Fähigkeit zur Feldunabhängigkeit,
       die situativ erregten eigenen Affekte unter Kontrolle zu halten,
    o Fähigkeit zur Selbstbestimmung,
       nicht als Willkür, sondern als Selbstverpflichtung verstanden,
       seine Arbeitsprozesse, seine Urteile, seine Aussagen nicht Launen und Affekten,
       sondern Überlegungen zu unterwerfen und mit jenen Qualitäten auszustatten,
       die wir allgemein mit Zuverlässigkeit, Solidität, Beständigkeit, Konsequenz u.Ä..
       beschreiben.

4.0 Literaturnachweis

4.1 Textgrundlage

Der vorstehende Text beruht im Wesentlichen auf folgendem Buch:

  • Erich E. GEISZLER
    Schule:
    Theorien, Modelle, Kritik.
    Stuttgart 1984, S. 280 f.

Interesse verdienen auch die Positionen, die der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in seiner Denkschrift 2003 „Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft" vertreten hat. Sie finden sie auf der Webseite „Aspekte zeitgenössischer Bildungstheorien".

4.2 Weitere Literatur zum Thema

  • Jürgen DIEDERICH (Hrsg.)
    Erziehender Unterricht
    Fiktion oder Faktum?
    Frankfurt am Main 1985
  • Heinrich DÖPP-VORWALD
    Erziehender Unterricht und menschliche Existenz
    Weimar 1932 / Darmstadt 1968
  • Hartmut HACKER (Hrsg.)
    Erzieht Unterricht?
    Aktuelle Beiträge zu einem klassischen pädagogischen Thema
    Baltmannsweiler 1990
  • Stephanie HELLEKAMP
    Erziehender Unterricht und Didaktik
    Neuere Didaktiktheorien im Horizont klassischer Begriffsbestimmungen
    Weinheim 1991
  • Jürgen OELKERS
    Erziehen und Unterrichten
    Grundbegriffe der Pädagogik in analytischer Sicht
    Darmstadt 1984
  • Jörg RAMSEGER
    Was heißt durch Unterricht erziehen?
    Weinheim 1991
  • Jürgen REKUS
    Erziehender Unterricht in der Schule
    in:
    Gernot GONSCHOREK - Willi WÖLFING
    Schule und Bildung
    Weinheim 1983
  • Hermann SIEGENTHALER
    Die erzieherische Dimension des Unterrichts
    Einführung für Lehrkräfte aller Stufen
    Donauwörth

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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