Die Aufgabe der Schule 1.0 Einleitung
So Hermann GIESECKE. Unterricht ist für ihn eine künstliche,
auf systematischer Lehre aufbauende Sonderform GIESECKEs Auffassungen werden hier in Form von acht Thesen dokumentiert, weil ihre pointierte Klarheit dazu herausfordert, einen eigenen Standpunkt zu finden. 2.0 GIESECKEs Position 2.1 Das Problemfeld GIESECKE sieht folgende Problematik. Gegenwärtig gelte die Unterrichtung der
Schüler durch ihre Lehrer als überholt, wenn nicht rückständig. Vielmehr sollen die
Schüler möglichst selbst herausfinden und bestimmen, was, wie und in welchem Tempo sie
lernen wollen. GIESECKE hält das für einen Fehler und will seine Auffassung mit den folgenden Thesen untermauern. 2.2 Acht Thesen über Unterricht 1. Die Fähigkeit, sich erfolgreich unterrichten zu lassen, ist unerlässlich Alle Wege beruflicher Qualifizierung
führen über Unterricht. Lehrende, die etwas wissen oder können, geben diesen Vorsprung
in didaktisch möglichst geschickter Weise an diejenigen weiter, die es noch nicht wissen
oder können. 2. Die Lernbarkeit der Sachen bestimmt die Aufgaben der Schule Die Alltagswelt ist weder lehrbar noch
lernbar. Als solche besteht sie nur aus einem Sammelsurium von Eindrücken, Einwirkungen,
Forderungen und Signalen. Erst die Erfindung des Unterrichts macht es möglich,
komplizierte Sachverhalte und Zusammenhänge so zu vereinfachen und zu verdichten, dass
sie Schritt für Schritt verstanden werden können. Dabei entstehen grundlegende,
modellhafte, exemplarische oder ähnlich strukturierte Kenntnisse und Einsichten. Diese
dürfen freilich nichts Endgültiges haben, sondern sollen dem Weiterlernen dienen. 3. Unterricht und Leben unterscheiden sich von einander Unterricht geschieht immer in Distanz zum
sonstigen Leben, doch wird er für dessen Bewältigung gebraucht. Wer unterrichtet wird -
ob Grundschüler oder Manager - verlässt zu diesem Zweck sein normales Leben und kehrt
danach wieder dorthin zurück. Das Leben selbst lehrt zwar Vieles und Wichtiges, aber es
unterrichtet nicht. Unterricht ist eine geniale kulturelle Erfindung, weil sie uns
ermöglicht, die Unmittelbarkeit unserer Existenz zu überschreiten und für noch
unbekannte spätere Verwendungssituationen gleichsam auf Vorrat zu lernen. 4. Schule hat den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern Die Gesellschaft hat ein existentielles
Interesse daran, dass die jeweils nachwachsende Generation das bereits vorhandene
Potential an Kenntnissen und Fähigkeiten zumindest übernehmen, möglichst sogar
übertreffen kann. Sie muss immer wieder durch intelligente Arbeit und Tätigkeit
reproduziert und weiter entwickelt werden - gerade auch um der nachwachsenden Generation
willen. Dafür sind unterrichtliche Qualifizierungen unerlässlich. 5. Unterricht ist für die Entfaltung der Potentiale wichtig Ohne Unterricht könnten die Menschen im
Allgemeinen und die Kinder im Besonderen die in ihnen schlummernden Fähigkeiten in nur
sehr geringem Maße entfalten. Anders gesagt: Sie könnten sich nicht bilden".
Die Fähigkeit, sich unterrichten zu lassen, liegt so gesehen also auch im
wohlverstandenen Interesse des Kindes selbst. Deswegen steht sie zu diesem keineswegs in
einen prinzipiellen Widerspruch, als sei sie per se nicht kindgerecht". Im
Gegenteil sind die Schulfächer mit ihren unterschiedlichen Anforderungen nicht zuletzt
dazu da, unterschiedliche Fähigkeiten des Kindes herauszufordern, so dass es immer
genauer zu erkennen vermag, was es gut kann und was weniger gut, was ihm mehr liegt und
was weniger. Nur so vermag es allmählich auf diesem Hintergrund seine Zukunftsplanung zu
entwickeln. Schule ermöglicht dafür eine Fülle wichtiger Erfahrungen. Die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit bedarf der Herausforderung durch objektive, gerade nicht aus der subjektiven Innerlichkeit herrührende Ansprüche sowie der tätigen und auch mühsamen Auseinandersetzung damit. 6. Schule sichert die Emanzipation des Kindes Schulunterricht ist die einzige Möglichkeit der Emanzipation des Kindes, über die es selbst verfügen kann. Das einzige Kapital, das ein Kind von sich aus vermehren kann, sind sein Wissen und seine Manieren im Sinne öffentlich akzeptabler Verhaltensweisen. Ohne Schule würden die Reichen ihren Nachwuchs wieder wie früher privilegieren können. Alle anderen Kinder den gleichsam naturwüchsigen Mechanismen ihrer Sozialisation ausgeliefert, die ihrerseits von den Zufälligkeiten seiner Geburt und seines Lebensmilieus abhängen. 7. Unterricht transzendiert Erfahrungen Jeder erfolgreiche Unterricht muss an
einer bereits vorhandenen schulischen oder außerschulischen Erfahrung anknüpfen - also
ist er immer erfahrungsorientiert. Er spricht die bereits vorhandenen Erfahrungen an,
treibt sie weiter, differenziert sie, bringt sie auf den Begriff, klärt sie auf und
verknüpft sie mit anderen. 8. Unterricht - eine Sonderform des Lernens, die nicht zu ersetzen ist Unterricht ist also eine auf systematischer Lehre beruhende Sonderform des Lernens und kann weder durch andere Lernformen noch durch bloße Ausdehnung und Erweiterung von Alltagserfahrungen ersetzt werden. 3.0 Literaturnachweis 3.1 Textgrundlage Der vorstehende Text wurde auf der Grundlage eines Aufsatzes ausgearbeitet, der in der Deutschen Lehrerzeitung Nr. 29/30 vom 24. Juli 1997 veröffentlicht worden ist. 3.2 Vertiefungen GIESECKE hat seine Auffassungen und Einschätzungen auch in größerem Rahmen vorgetragen:
Er bezieht sich in den o.g. Thesen auf folgende Publikation:
Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 04.05.18 |