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Fehlerquellen und Störfaktoren

der Leistungsbeurteilung

Übersicht
1.0 Der Problemhorizont
2.0 Die Fehlerquellen

      2.1 Unzulängliche Verfahren
      2.2 Psychologisch bedingte Irrtümer
3.0 Soziale Wahrnehmung

4.0 Implizite Persönlichkeitstheorien und Leistungsbeurteilung
      4.1 Vorinformation
      4.2 „Pygmalion"-Effekt
      4.3 Tendenzen zu Einseitigkeit
5.0 Typische Störfaktoren

      5.1 „Halo"-Irrtum
      5.2 „Logischer" Irrtum

      5.3 Summarischer Irrtum
      5.4 Übertragungs-Irrtum
      5.5 Wertdimensions-Irrtum
      5.6 Dependenz-Irrtum
      5.7 Stereotypen-Irrtum
      5.8 Kollektiv-Irrtum
      5.9 Sequenz-Irrtum

1.0 Der Problemhorizont

Die Beurteilung von Schülern und deren Leistungen gehört zu den besonders schwierigen Aufgaben des Lehrers. Einerseits greift die Beurteilung von Person und Leistung tief in Selbstverständnis und Lebenschancen eines Menschen ein, andererseits beeinträchtigt und behindert eine Reihe von Faktoren ein objektives, zuverlässiges und gültiges Urteil.

Perfekte Gerechtigkeit bei der Beurteilung von Schülern und deren Leistungen, oft als Objektivität bezeichnet und gefordert, ist kein realistisches Ziel, denn alles Erkennen wird durch das erkennende Subjekt beeinflusst und muss im Übrigen der beurteilten Person gerecht werden. Dazu finden Sie Vertiefungen auf den Webseiten „Das Problem der Objektivität" sowie Subjektivität, vorkritisches und kritisches Denken".

Auf diesen Sachverhalt fatalistisch und resignativ zu reagieren, wäre jedoch nicht aufgabengerecht. Objektivität des Beurteilens und Bewertens lässt sich vielmehr im Sinne einer realistischen und weitgehend erfüllbaren Forderung beschreiben - als Abwesenheit von Willkür. Willkür wird hier nicht nur als vorsätzliches Handeln verstanden, sondern vor allem als unreflektiertes Urteilen, das sich seiner Voraussetzungen und Fehlerquellen nicht bewusst ist und/oder auf unzureichenden Verfahren beruht.

Zu den wichtigen Berufstugenden des Lehrers gehört es, die Mechanismen des Irrtums zu kennen und vor allem so weit wie möglich zu vermeiden. Weder Intuition noch subjektive Überzeugungsgewissheit - so achtbar sie sein mögen - genügen dieser Forderung. Vielmehr müssen Bewusstsein und Willen angespannt werden. Anders gesagt - es kommt darauf an, eine professionelle Haltung einzunehmen.

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2.0 Die Fehlerquellen

Die wesentlichen Fehlerquellen bestehen unabhängig von der Person des jeweils Urteilenden. Zwei große Bereiche lassen sich unterscheiden:

2.1 Unzulängliche Verfahren

Die Konstruktion von Lernerfolgskontrollen, deren Korrektur, Bewertung und Auswertung kann - unabhängig von der Wirkung subjektiver Faktoren - methodisch unzureichend sein.

2.2 Psychologisch bedingte Irrtümer

Sowohl in der Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Menschen als auch in den Mechanismen der Kommunikation zwischen den Menschen gibt es Sachverhalte, die ein sachgerechtes Erkennen und Beurteilen beeinträchtigen. Beide Aspekte wirken in einem Horizont zusammen, der allgemein als 'Soziale Wahrnehmung' bezeichnet wird.

Im Übrigen sind diese Phänomene evolutionsbiologisch bedingt, also keine charakterlichen Defizite. Sie dürfen deswegen nicht von vornherein der persönlichen Verantwortung des einzelnen Menschen zugerechnet, müssen jedoch unbedingt reflektiert und eingegrenzt werden. Die Wahrnehmungsmuster, die unseren Umgang mit anderen Menschen leiten, sind im ursprünglichen Wortsinn Vor-Urteile. Wir haben darauf zu achten, dass sie sich nicht zu Vorurteilen verfestigen.

Möglichkeiten, Verfahrensfehler zu erkennen und vermeiden, werden an entsprechender Stelle dargestellt. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit den psychologisch bedingten Fehlern der Leistungsbeurteilung.

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3.0 Soziale Wahrnehmung

Der Begriff »Soziale Wahrnehmung« bezeichnet erstens den Vorgang, der stattfindet, wenn andere Menschen von einem erkennenden Subjekt wahrgenommen werden, und zweitens dessen Ergebnisse. Carl F. GRAUMANN (1984, S. 157) grenzt ihn auf den Begriff 'Wahrnehmungsurteile' ein.

Vier Faktoren, die diesen Vorgang beeinflussen, lassen sich herausarbeiten.

  • Auswahl
    Aus der Fülle der vorhandenen Reize werden diejenigen ausgewählt, die der eigenen Erwartung und den eigenen Bedürfnissen entsprechen.
  • Organisation
    Die Wahrnehmungen werden so strukturiert, dass sie zu den Annahmen, Vorurteilen, Stereotypen passen, die wir ohnehin schon haben.
  • Akzentuierung
    Bestimmte Wahrnehmungen werden bewusster empfunden, andere werden nicht oder kaum beachtet.
  • Fixierung
    Menschen neigen dazu, an einmal gewonnenen Eindrücken festzuhalten. Diese werden von neuen Wahrnehmungen auch dann „bestätigt", wenn die neue Wahrnehmung gar nicht zur bestehenden Meinung passt und eigentlich deren Überprüfung auslösen müsste.

Das bedeutet im Einzelnen: Eine komplexe Fülle von Eindrücken wird auf einige wichtig erscheinende Kategorien zurückgeführt. Dadurch werden manche Sachverhalte verkürzt, vereinfacht oder gar ausgeblendet, andere überbetont oder gar falsch gedeutet. Das bedeutet im Kern:

Wahrnehmen heißt - wörtlich verstanden - für wahr halten.
Wahrnehmung ist also zugleich immer auch Interpretation des Wahrgenommenen.

In der Sozialpsychologie werden derartige Wahrnehmungsmuster als naive oder Alltagstheorien der Persönlichkeit - implizite Persönlichkeitstheorien - bezeichnet. Sie folgen aus einem anthropologisch gegebenem Grundbedürfnis und sind somit weder schlecht noch verwerflich. Sie wirken vordergründig schlüssig und überzeugend, denn sie erleichtern die Orientierung im Alltag. Gerade deswegen sind jedoch durch die Möglichkeit schwerer Irrtümer belastet.

Auf der Webseite Alltagstheorien der Persönlichkeit" wird diese Thematik vertieft. Hier nur soviel Wahrnehmungsmuster - landläufig Vorurteile genannt - sind sehr stabil. Albert EINSTEIN hat deswegen einmal gesagt:

"Ein Atom ist leichter zu zertrümmern als ein Vorurteil."

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4.0 Implizite Persönlichkeitstheorien und Leistungsbeurteilung

Die Schulpraxis kann bei der Beurteilung von Schülern und ihrer Leistungen auf Kategoriensysteme nicht verzichten. Bei deren Entwicklung ist jedoch darauf zu achten, dass Beobachtung, Untersuchung und Interpretation so weit wie möglich unterschieden werden.

Oft jedoch werden Begriffssysteme von vermuteten Persönlichkeitszusammenhängen oder erwünschten Erziehungsvorstellungen bestimmt, z. B.

Arbeitsverhalten, Charakter, Begabung, Sozialverhalten, körperliche Konstitution o. Ä..

Im Folgenden werden zentrale Fehlerquellen vorgestellt, die zu den Mechanismen der Sozialen Wahrnehmung und/oder der impliziten Persönlichkeitstheorien in Beziehung stehen.

4.1 Vorinformation

Die Kenntnis von Einschätzungen und Leistungsbewertungen anderer Beurteiler kann die Wahrnehmungsfähigkeit und Urteilsbildung eines Beurteilers lenken.

4.2 „Pygmalion"-Effekt

Die intensive Interaktion zwischen Beurteilendem und Beurteiltem kann einen Prozess der sich selbst erfüllenden Prophezeiung in Gang setzen, weil Selbstbild und Leistungsverhalten eines Menschen oft in beachtlichem Grade von der Einschätzung des als kompetent oder für die eigene Person als wichtig empfundenen Beurteilers bestimmt wird.

Beurteilende können Leistungen freisetzen, vor allem jedoch hemmen, wenn nicht gar verhindern. Deshalb sind sie zu Einsicht in diese Zusammenhänge und zu verantwortungsbewusster Wahrnehmung ihrer Aufgaben verpflichtet.

Anmerkung: Pygmalion - eine Gestalt des griechischen Mythos - war ein Künstler. Er verliebte sich in eine von ihm geschaffene Statue und bat darum, sie möge lebendig werden. - Das Motiv ist vielfach nachgestaltet worden; am bekanntesten sind „Pygmalion" von Bernard Shaw und „My Fair Lady" von Leonard Bernstein.

4.3 Tendenzen zu Einseitigkeit

Beurteilende neigen nicht selten zu einseitigen Bewertungen. Zu nennen sind die folgenden Ausprägungen.

  • Tendenz zu Beharrung

    Sie ergibt sich aus dem Faktor 'Fixierung' (vgl. oben) und entspricht der Neigung, an dem für richtig gehaltenden Urteil festzuhalten. Sie gefährdet die Leistungsbewertung insgesamt am stärksten, weil Abweichungen von der Leistungshöhe, mit der der Urteilende rechnet, oft nicht deutlich genug wahrgenommen oder aber uminterpretiert werden.

  • Tendenz zu Milde

Sie entspringt der Sorge, den Beurteilten zu entmutigen und/oder ihm Chancen für sein Fortkommen zu nehmen. Sie kann jedoch auch aus der Furcht vor unangenehmen Rückwirkungen in der Beziehung zum Beurteilten stammen.

  • Tendenz zu Härte

Sie kann auf unterschiedliche Motive zurückgehen. Im Vordergrund stehen leistungsbetontes Fordern und erzieherischer Anspruch, in der Tiefendimension kann Dominanzstreben, bis hin zum Missbrauch der erzieherischen Funktion, eine Rolle spielen.

  • Tendenz zur Mitte

Sie ist meist das Ergebnis von Unsicherheiten im Beobachten und Bewerten; sie verführt dazu, durchschnittliche Noten zu bevorzugen.

  • Tendenz zu Extremen

Sie spiegelt Unsicherheiten einer Urteilsbildung wider, in der sowohl Anerkennung als auch Kritik unangemessen stark ausgeprägt sind und ggf. in jähem Wechsel aufeinander folgen.

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5.0 Typische Störfaktoren

Neben den dargestellten Fehlerquellen genereller Art gibt es eine Reihe weiterer benennbarer Störfaktoren. Zum Teil stehen sie mit den schon erörterten Sachverhalten in Verbindung, zum Teil sind sie durch die Persönlichkeitsstruktur des Urteilenden bedingt, zum Teil ergeben sie sich situativ.

Überschneidungen in der Darstellung lassen sich nicht immer vermeiden, weil gerade hier „alles mit allem zusammenhängt" und dennoch möglichst differenzierte Darstellung erforderlich scheint. Die Darstellung folgt im wesentlichen Hans-Peter DRÖGEMÜLLER (1977, S. 155 ff.) und Hartwig SCHRÖDER (1974, S. 121 ff. und 202 ff.).

5.1 „Halo"-Irrtum

Der Überstrahlungs-/Ausstrahlungsirrtum wurde erstmals von WELLS (1907) und THORNDIKE (1920) beschrieben. Als positiv oder negativ empfundene Teilaspekte in Persönlichkeitsbild oder Leistungsverhalten eines Beurteilten verleiten zur Verallgemeinerung. So werden auch Fähigkeiten und Leistungen auf anderen Gebieten im Lichte des zentralen Merkmals beurteilt. Das kann bis zu krassen Überschätzungen, aber auch zu verhängnisvollen Ungerechtigkeiten führen.

5.2 „Logischer" Irrtum

Leistungs- und Verhaltensmerkmale können den Eindruck erwecken, sachlich („logisch") zusammenzugehören, obwohl sie im psychologischen Verständnis nichts miteinander zu tun haben. Unordentliches Aussehen ist kein schlüssiges Indiz für unordentliche Arbeitsweise, langsames Sprechen kein Indiz für langsame Auffassungsgabe. Sachlich gesehen, ist der logische Irrtum eine Variante des Halo-Irrtums.

5.3 Summarischer Irrtum

Hierbei handelt es sich um eine andere Variante des Halo-Irrtums. Da keine Beurteilung alle Aspekte erfassen kann, muss der Beurteilende auswählen und vereinfachen. Die Vereinfachung wird dann zum Irrtum, wenn die summarische Würdigung auf der Hand liegender Sachverhalte dazu führt, dass andere wichtige, aber weniger auffällige Aspekte übersehen werden.

5.4 Übertragungs-Irrtum

Der Urteilende überträgt Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen, Interessen oder auch Befürchtungen auf den Beurteilten. Sein Urteil wird im Sinne dieser Erwartungen verfälscht.

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5.5 Wertdimensions-Irrtum

Der Urteilende bewertet solche Leistungs- und Verhaltensformen des Beurteilten besonders hoch, die er selbst für wichtig hält. Dabei kann die - oft unbewusste - Bewertung eigener Persönlichkeitsmerkmale eine Rolle spielen. Eigenschaften des Beurteilten, die der Beurteilende an sich selbst vermisst, aber hoch bewertet, führen zu einem günstigen Urteil. Umgekehrt führen Eigenschaften des Beurteilten, die der Beurteilende an sich selbst wahrnimmt, aber unbewusst ablehnt, oft zu einem besonders harten Urteil.

5.6 Dependenz-Irrtum

Beurteilte stellen sich zumal dann auf ihre Beurteiler an, wenn diese profiliert und angesehen sind. Dadurch werden dem Beurteilenden bedeutsame Sachverhalte überbetont und zugleich andere, für das Urteil wichtige Sachverhalte seiner Wahrnehmung entzogen.

5.7 Stereotypen-Irrtum

Verhaltens- und Leistungselemente eines Beurteilten können als Persönlichkeitsmerkmale wirken, obwohl sie in Wirklichkeit Stereotype einer Rolle sind, die er einnimmt oder die ihm - vielleicht sogar vom Beurteilenden - zugeschrieben wird. Die Beurteilung kann diese Merkmale verstärken, und der Beurteilende sieht sich, Ursache und Wirkung verwechselnd, in seinem Irrtum auch noch bestätigt.

5.8 Kollektiv-Irrtum

Die Einzelbewertung des Beurteilenden wird durch Konformitätswirkung und Normendruck einer Gruppe - insbesondere des Klassenkollegiums, aber auch einer Lerngruppe - beeinflusst und verfälscht. Das kommt vor allem bei Zeugniskonferenzen oder bei dem Eintritt eines Neulings in ein „urteilssicheres" Klassenkollegium vor.

5.9 Sequenz-Irrtum

Bei der Korrektur von Klassenarbeiten kann die Bewertung einer Leistung von der Reihenfolge und vor allem von dem Eindruck abhängen, den die gerade zuvor korrigierte Arbeit auf den Urteilenden gemacht hat. Je nach Sachlage führt das zu unangemessen günstiger oder umgekehrt ungünstiger Bewertung.

Auch die Bewertung mündlicher Prüfungen kann vom Platz der einzelnen Prüfung in der Reihenfolge der Prüfungen abhängen.


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 20.01.09
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