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Das Problem der Objektivität

1.0 Der Problemhorizont

Gegen die Praxis der Leistungsbeurteilung und Zensurengebung wird vor allem eingewandt, sie sei „subjektiv", es mangele ihr an einer besonders wichtigen Eigenschaft, der Objektivität. Deshalb steht die Forderung nach Objektivität nach wie vor im Mittelpunkt der Diskussion.

Somit sind Wesen, Elemente und der Merkmale der Objektivität zu erörtern, ist ihre pädagogische Funktion und Wirkung zu bedenken.

2.0 Objektivität in der klassischen Testtheorie

Eine Messung gilt dann als objektiv, wenn verschiedene Untersucher desselben Merkmals unabhängig voneinander zu demselben Messergebnis kommen. Anders gesagt: eine Messung ist dann objektiv, wenn subjektive Einflüsse der Untersucher möglichst ausgeschaltet werden können (INGENKAMP 1985, S. 34).

In der schulischen Leistungsbeurteilung müssen mehrere Arbeitsebenen unterschieden werden:

  • Durchführung der Leistungsüberprüfung - deren Verfahren,
  • Auswertung der erbrachten Leistungen - deren Ermittlung,
  • Interpretation der ermittelten Ergebnisse - deren Auswertung.

In der Schulpädagogik bestehen die entscheidenden Schwierigkeiten auf der Ebene der Auswertung und der Interpretation; sie werden noch verstärkt durch die Neigung vieler Lehrer, Feststellung bzw. Messung der Schülerleistungen nicht konsequent genug von deren Wertung bzw. Interpretation zu trennen.

2.1 Die Ambivalenz der Objektivität

In der Diskussion um Objektivität ist eingewandt worden, sie ignoriere den sozialen Kontext, innerhalb dessen Schülerleistungen beurteilt werden müssten. Dem ist entgegenzuhalten, dass im Sinne von Objektivität vermieden werden muss, bei der Messung eines Merkmals andere Faktoren unkontrolliert in die Messung eingehen zu lassen.

Auf das Bemühen um - recht verstandene - Objektivität darf im übrigen deswegen nicht verzichtet werden, weil man sonst der Beliebigkeit oder gar der Willkür das Feld überließe.

Offenkundig führt die Frage nach der Objektivität in komplexere Bereiche, als zunächst zu vermuten ist. Dazu zwei Zitate.

"Objektivität ist die Wahnvorstellung, 
Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden."

(Heinz von Foerster, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, 1998, S. 154)

"Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung - 
daher ihre Beliebtheit."

Ernst von GLASERSFELD, Radikaler Konstruktivismus, 1995, S. 142)

Deshalb wird hier nicht lediglich die Forderung nach Objektivität unkritisch wiederholt und weitergegeben, sondern vielmehr versucht, ein weiter gefasstes Verständnis von Objektivität vorzustellen. Hierbei handelt es sich um die Position von Hartwig SCHRÖDER (1976).

3.0 Objektivität als „Objektgemäßheit"

SCHRÖDER, a.O. S. 56 ff., insbesondere S. 67, trifft im wesentlichen folgende Feststellungen:

  • Objektivität wird vorwiegend negativ definiert, also als Gegensatz von Subjektivität. Demgemäß wäre eine Leistungsbeurteilung objektiv, die von subjektiven Einflüssen des Beurteilers frei ist.
  • Um Objektivität als Gegensatz von Subjektivität zu sichern, müssen die Urteile verschiedener Urteiler übereinstimmen. Das lässt sich nur leisten, wenn sie auf die strikte Anwendung eines Beurteilungsschemas verpflichtet oder die Leistungsergebnisse gar automatisch ermittelt werden.

Objektivität ergibt sich demnach aus völliger Schemagemäßheit und aus Automation. Das urteilende Subjekt ist ausgeschaltet. Somit scheint die Frage nach der Objektivität gelöst.

Dennoch formuliert SCHRÖDER auf dieser Stufe seiner Ableitungen einen fundamentalen Einwand:

  • Eine Beurteilung der dargestellten Art wird dem Objekt der Beurteilung, dem Schüler, nicht gerecht, denn dieses „Objekt" ist ein Mensch.

Damit gerät die scheinbar vollkommene Objektivität in eine Sackgasse. Die Ursache dafür sieht SCHRÖDER in der ausschließlich negativen Bestimmung von Objektivität. Deshalb stellt er ihr eine positive Definition entgegen:

  • Objektivität ist „Objektgemäßtheit".
    Der Inhalt des Urteils wird ausschließlich durch das Objekt bestimmt - also den Schüler.

Dieses Verständnis von Objektivität beschränkt die Beurteilung von Schülern nicht auf die quantitativen (messenden) Verfahren, sondern öffnet auch den Weg dafür, darüber hinaus qualitative (beschreibende) Verfahren zu verwenden. Sie sind deswegen objektgemäß, weil die Individualität des Menschen durch die personelle Einheit von Leib, Seele, Geist bestimmt ist.

3.1 Objektivität - eine ungelöste, aber zu leistende Aufgabe

Die Objektgemäßheit eines Beurteilungsverfahrens versteht sich nicht von selbst, sondern muß immer wieder von neuem ermittelt werden. Objektivität ist folglich kein Problem, das durch Anwendung entsprechender Verfahren ein für allemal gelöst wäre.

Objektivität kann auch nicht durch Ausschaltung des Subjekts gewährleistet werden, denn eben das erkennende Subjekt ist die Instanz, die allein die Leistungsbeurteilung vollziehen kann - und muss.

Daraus folgt für das erkennende Subjekt - also jeden, der andere Menschen beurteilt - eine grundlegende Aufgabe:

  • Das urteilende Subjekt unterzieht sein Urteil einer kritischen Prüfung hinsichtlich dessen Objektivität, d.h. dessen Objektgemäßheit. Mithin hat es in der Leistungsbeurteilung eine unersetzliche Funktion.

Absolute Objektivität kann es nicht geben. Auch strenge Beurteilungsschemata können sie nicht gewährleisten, weil sie nicht hinreichend objektgemäß sind. 

Allein das Subjekt kann, indem es sein Urteil kritisch und verantwortungsbewusst reflektiert, der Lösung der Aufgabe näherkommen, wird sie jedoch niemals vollkommen lösen.

4.0 Objektivität - das Fehlen von Willkür

Die vorstehenden Ausführungen könnten resignativ und dadurch entmutigend wirken. Deshalb soll das Bemühen um Objektivität abschließend in einer konstruktiven und jedem zugänglichen Formel beschrieben werden:

Objektivität kann durch das Vermeiden von Willkür gewährleistet werden.

Unter „Willkür" wird hier nicht nur vorsätzliches Handeln verstanden, sondern vielmehr jede Form von fahrlässigem oder inkompetenten Handeln oder Unterlassen

Diese Forderung kann am ehesten durch ein Selbstverständnis eingelöst werden, das durch Professionalität geprägt ist.

5. Vertiefungen

Wenn Sie dem Problem der Objektivität nachgehen wollen, finden Sie unter der folgenden Adresse vielfältige Anregungen und Informationen:

http://beat.doebe.li/bibliothek/w00154.html


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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