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Was macht die Kinder so böse?

Kinder und Gewalt

1.0 Der Problemhorizont

Das Magazin „Der Spiegel" setzt sich in Nr. 15 vom 6. April 1998, S. 126 ff. mit der Frage auseinander, was aus einem Jungen einen S-Bahn-Surfer oder ein Crash-Kid wie den notorischen Hamburger Autoknacker Dennis oder gar einen Mörder macht. Er berichtet u.a. über die Arbeit des Bielefelder Gewaltforschers HURRELMANN. In seinem „Sonderforschungsbereich Prävention und Aggression im Kinder- und Jugendalter" arbeiten zwölf Professorenteams interdisziplinär an der Suche nach Rezepten für die Erziehung.

Im Folgenden wird der Text S. 135 f. in bearbeiteter Form referiert.

2.0 Gewalttätige Kinder - ein Erklärungsversuch

HURRELMANN registriert emotionale und soziale Fehlentwicklungen „schon zu Beginn des zweiten Lebensjahrzehnts in einer Häufigkeit, wie sie vor zehn bis 15 Jahren noch nicht üblich waren".

Auf der Suche nach der Entstehung von Aggressivität haben Forscher inzwischen subtile Modelle entwickelt, doch sie alle können nicht erklären, warum ein Kind ausrastet - aber immerhin zeigen sie Möglichkeiten zu intervenieren.

Vier Stufen aggressiven Verhaltens

Nach solchen Modellen entwickelt sich aggressives Verhalten auf vier Stufen:

  • Erste Stufe
    Auf der untersten Ebene der Wahrnehmung fällt bereits eine Grundentscheidung. Da der Mensch gar nicht alles mitkriegen kann, was um ihn herum geschieht,
  • beobachtet er eher das, was er erwartet.
    Jedes Ereignis wird sofort klassifiziert:

o Günstig oder bedrohlich?
o Nützlich oder schädlich für die eigenen Intentionen?

Bei aggressiven Kindern wurde festgestellt, dass sie vor allem Feindseligkeiten wahrnahmen und sogar neutrale Geschehnisse als Angriff interpretierten.

  • Zweite Stufe
    Auf der zweiten Stufe wird entschieden, wie man auf die Wahrnehmung reagiert:

o Aggressiv - ja oder nein?

Was der Mensch an Verhaltensweisen kennt, wird rasend durchgespielt, bis sich ein passendes Muster findet. Bevorzugt greift er auf seine bewährten Methoden zurück: Seine eingeschliffenen Programme rasten ein. Je häufiger ein Individuum bereits aggressiv reagiert hat, desto wahrscheinlicher trifft es die gleiche Wahl.

  • Dritte Stufe
    Dann allerdings kommt es darauf an, Stufe drei,
    ob der aggressive Impuls die Hemmschwelle überspringt.

Der Mensch geht seine Erfahrungen aus der Vergangenheit durch. Überwog der Nutzen von Aggression die negativen Konsequenzen, wirkte sie oft befreiend, führte sie häufig ans Ziel, ergibt sich ein inneres Okay.

Assoziiert der Mensch dagegen eine Menge von früheren Unannehmlichkeiten mit seiner beabsichtigten Handlung, kriegt er es mit der Angst zu tun. Beim Kommando Stopp wird der aggressive Impuls zurückverwiesen auf Stufe zwei und modifiziert.

So kann zum Beispiel die ursprüngliche Absicht, einfach draufzuhauen, zur Schimpfkanonade gemildert werden, und wird auch diese Hemmschwelle nicht passiert, bleibt schließlich bloß eine geballte Faust in der Hosentasche übrig.

  • Vierte Stufe
    Hat ein potentieller Aggressor seine Hemmschwelle überwunden, so rechnet er sich auf Stufe vier aus, welche Folgen in der gegebenen Situation wahrscheinlich sein könnten.

o Lohnt sich Gewalt oder nicht? Gerade hier und jetzt?

Intelligenz und Weitsicht können einen Menschen mit geringem Hemmpotential jetzt noch bremsen; je dümmer, aber auch je jünger er ist, desto kurzfristiger kalkuliert er und lässt die negativen Konsequenzen der Zukunft außer acht. Reicht die Hochrechnung nicht über die aktuelle Gegebenheit hinaus und ist der unmittelbare Erfolg viel versprechend, kommt es zur Tat.

Das Modell der vier Stufen macht deutlich, dass man etwas gegen die Gewalt unter Kindern tun kann - aber auch, wie schwierig es ist. Ob Kinder entgleisen, ob die brutale Kettenreaktion in den Köpfen und Seelen tatsächlich abläuft oder nur als Möglichkeit verschlossen bleibt, liegt in erster Linie bei den Eltern.

3.0 Folgerungen

Amerikanische Forscher notierten, was auf der Hand liegt: Festgefügte Kleinfamilien mit wenig Differenzen konnten Entgleisungen ihres Nachwuchses eher auffangen und korrigieren, große Familien mit niedrigerem Sozialstatus oder geschiedene Eltern eher nicht.

3.1 Erziehungsstile

Als besonders nachteilig hat sich ein Erziehungsstil erwiesen, den Fachleute „inkonsistent" nennen. Er ist, wie die Bielefelder Experten erforschten, bei randständigen chaotischen Familien verbreitet, ergibt sich aber auch aus einem Trend zur Auflösung der Selbstdisziplin bei besser gestellten Leuten: Leben nach Lust und Laune.

Das kleine Objekt bestrafender oder belohnender Behandlung vermag keinen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten und der elterlichen Reaktion herzustellen. Es erlernt seine eigene Hilflosigkeit:

„Was ich auch tue, es ist zwecklos."

Hurrelmann schätzt, dass etwa 15 Prozent der Eltern „erziehungsunfähig" sein dürften, einschließlich der Familien, in denen die Kinder körperlich misshandelt, sexuell missbraucht oder seelisch gequält werden.

3.2 „Frustration" - ein Missverständnis

Die Einsicht, dass Aggression häufig die Folge von Frustration ist, hat zu einem der folgenschwersten Missverständnisse der Nachkriegspädagogik geführt. Aus dem Bedürfnis, Frustrationen zu vermeiden, entstand das Konzept der „antiautoritären Erziehung" und die Praxis, böse Kinder einfach gewähren zu lassen.

Mittlerweile ist der Irrtum erkannt.

  • Die Duldung von Aggressionen wirkt verstärkend.
  • Aggressive Kinder müssen gestoppt werden, nicht belohnt.

Die Frage bleibt welche erzieherischen Mittel wirksam sein können und zugleich unseren Grundsätzen entsprechen.

Ausgewählte Arbeiten von Klaus HURRELMANN zum Thema Gewalt

  • Jürgen MANSEL - Klaus HURRELMANN
    Alltagsstreß bei Jugendlichen
    Weinheim 1991
  • Klaus HURRELMANN u.a.
    Anti-Gewalt-Report
    Handeln gegen Aggressionen in Familie, Schule und Freizeit
    Weinheim 1995
  • Klaus HURRELMANN u.a.
    Gewalt in der Schule
    Weinheim 1999
  • Klaus HURRELMANN - Gerlinde UNVERZAGT
    Kinder stark machen für das Leben.
    Herzenswärme, Freiräume, klare Regeln
    Freiburg 2000
  • Annette PÖLERT-KLASSEN - Klaus HURRELMANN
    Soziales Lernen, Heft 4
    Konflikte erkennen, anpacken, lösen
    Berlin 2002

Beachtung verdienen auch die Analysen des Kriminologen

  • Christian Pfeiffer
    Die Verarmung der Unterschichten lässt die Aggressivität der Menschen steigen
    Die Zeit Nr. 52/1997
  • ders.
    "Verlierer" als potentielle Täter
    Benachteiligte neigen eher zu kriminellem Handeln
    Sieben Thesen zur Jugendgewalt
    Tagesspiegel vom 24. September 1998

Eine tiefschürfende Analyse der soziologischen Dimension der Gewalt hat letzthin vorgelegt

  • Karl Otto HONDRICH
    Ein Ganzes - Gesellschaft und Gewalt
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 211 vom 11. September 2002

Neuerdings ist eine vom Bundeskriminalamt veranlasste Studie erschienen:

  • Friedrich LIESEL - Thomas BLIESENER
    Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen
    München 2003

Die Autoren legen auf der Grundlage einer breiten empirischen Basis eine plausible Problemanalyse vor. Sie unterscheidet sich wohltuend von der alarmistischen Verallgemeinerung krasser Einzelfälle einerseits und wirklichkeitsblinden Beschwichtigungsversuchen andererseits. Außerdem bietet sie wichtige Hinweise für Lösungen und praktische Maßnahmen.


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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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