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Alltagstheorien der Persönlichkeit

Übersicht
1.0 Der Problemhorizont
      1.1 Voraussetzungen
      1.2 Interpersonale Wahrnehmung
      1.3 Konsequenzen für das Urteil von Lehrern
2.0 Implizite Persönlichkeitstheorien
      2.1 Begriff und Sachverhalt
      2.2 Verlauf der Urteilsbildung
3.0 Implizite Persönlichkeitstheorien in der Praxis des Unterrichts
      3.1 Generelle Aspekte
      3.2 Die Dimensionen impliziter Persönlichkeitstheorie von Lehrern
4.0 Zusammenfassung und Nutzanwendung
5.0 Literaturgrundlage

1.0 Der Problemhorizont

1.1 Voraussetzungen

Wahrnehmen heißt - wörtlich verstanden - für wahr halten.
Wahrnehmen und Beobachten sind zugleich immer auch schon Interpretieren.

Diese Tatsache ist ein Erbe, das tief in die Stammesgeschichte des Menschen, ja der Lebewesen überhaupt zurückreicht. Jedes Lebewesen muss dazu fähig sein, die für seine Lebenswelt existentiell wichtigen Sachverhalte zutreffend wahrzunehmen und nicht nur blitzschnell, sondern auch situationsgerecht auf sie zu reagieren. Irrtümer oder Fehlinterpretationen enden tödlich und nehmen dem Individuum die Chance, seine Gene weiterzugeben.
     Auch im Wahrnehmungsapparat des Menschen wirkt diese Vorgeschichte stärker, als uns im Allgemeinen bewusst ist. Die biologische Urtümlichkeit des dargestellten Zusammenhangs begründet zwar die offenkundige Leistungsfähigkeit schnellen Wahrnehmens, denn in komplexen sozialen Systemen ist es wichtig, sich schnell orientieren zu können. Dennoch wird schnelle Wahrnehmung  der Unübersichtlichkeit, Ambivalenz und Vielschichtigkeit der sozialen Beziehungen unserer Gegenwart oft nicht gerecht.

Hier kann vieles ganz anders sein, als es uns der erste Eindruck wahrnehmen lässt.

Fehlleistungen und Missverständnisse sind die Folge.

Womöglich halten Sie die vorstehenden Ausführungen für spekulativ oder doch mindestens fragwürdig. Deshalb sei hier auf die Arbeiten von Gerhard ROTH (1996/2020 und 2001) hingewiesen.
     ROTH fasst die aktuellen Erkenntnisse der Gehirnforschung exemplarisch zusammen.  Er unterscheidet zwischen Wirklichkeit und Realität. Die Erlebniswelt des Menschen bezeichnet er als die Wirklichkeit. Sie ist keineswegs kongruent mit der vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen hypothetischen Realität.  Zwischen - objektiver - Realität und - subjektiver - Wirklichkeit besteht also eine komplizierte Beziehung.

Was wir erleben, ist also keineswegs bloßes Abbild der Realität,
sondern - wie oben ausgeführt - deren Interpretation.

Ähnlich äußert sich der Hirnforscher Wolf SINGER (1990).

»Wahrnehmen« ist ein deutender Vorgang,
in dem wir unsere Bilder von der Welt konstruieren.

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1.2 Interpersonale Wahrnehmung

Begegnen sich Menschen, die bis dahin einander unbekannt sind, zum ersten Mal, so hat die erste gegenseitige Wahrnehmung häufig entscheidende Wirkung auf die Entwicklung ihrer Beziehung. Auch wenn Menschen einander schon länger kennen, bestimmt die gegenseitige Wahrnehmung die Art des gegenseitigen Umganges.
     „Personenwahrnehmung" oder „interpersonale Wahrnehmung" ist ein Forschungsbereich der Sozialpsychologie, der diese Zusammenhänge näher untersucht. Seine zentrale Fragestellung lautet:

Wie nehmen wir andere Menschen wahr, d.h., wie erkennen wir deren Eigenschaften?

1.3 Konsequenzen für das Urteil von Lehrern

Lehrer müssen in Ausübung ihres Berufes über die Persönlichkeitsmerkmale ihrer Schüler sowie über deren Leistungen urteilen und darauf oft weitreichende Entscheidungen stützen. Deshalb sind sie in besonderem Maße darauf angewiesen, den Prozess der Eindrucksbildung zu kennen und zu durchschauen.

Wie alle Menschen, so interpretieren auch Lehrer ihre Wahrnehmung von anderen Menschen anhand von unbewusst oder gleichsam naiv wirksamen Deutungsmustern. Sie werden in der Sozialpsychologie als „implizite Persönlichkeitstheorien" bezeichnet.

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2.0 Implizite Persönlichkeitstheorien

2.1 Begriff und Sachverhalt

Der Begriff 'implizite Persönlichkeitstheorie' bezeichnet die Gesamtheit der Annahmen einer Person. Eine implizite Persönlichkeitstheorie ermöglicht es einer Person, von einer Eigenschaft auf eine andere zu schließen. Der Schluss ist um so sicherer, je enger zusammengehörig die beiden Eigenschaften gesehen werden.
     Die implizite Persönlichkeitstheorie verdankt ihren Namen der Tatsache, dass eine Wahrnehmung zugleich auch schon ein Urteil enthält - impliziert. Dadurch unterscheidet sie sich von der expliziten Theorie, die sich auf ausdrückliche - explizite - Kriterien der Urteilsbildung stützt.
     Wichtig ist jedoch nicht ihre Gültigkeit im Hinblick auf „objektive" Persönlichkeitsmessungen. Gefragt wird vielmehr danach, wie sie das Verhalten ihres Trägers bestimmt. Mithin sind individuelle Überzeugungen über den Zusammenhang zwischen bestimmten Eigenschaften wirksam, nicht jedoch konkrete Erfahrungen. Aus der Existenz einer bestimmten Eigenschaft wird unmittelbar auf das Vorhandensein anderer Eigenschaften geschlossen, ohne dafür entsprechende Beobachtungen zu machen oder diese Annahmen zu prüfen.

Die zentrale Problematik dieses Zusammenhanges besteht in ihrem verführerischen Charakter. Je plausibler dem Wahrnehmenden die Eindrücke und Urteile erscheinen, die er gewonnen hat, desto weniger Anlass sieht er, sie zu prüfen und ggf. zu revidieren.
     Auf die Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen und die Entscheidungen für Interventionen haben diese Zusammenhänge wesentlichen Einfluss.

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2.2 Verlauf der Urteilsbildung

In idealtypischer Darstellung verläuft die Urteilsbildung des Beobachters wie folgt.

  • Aus seinem „Erwartungspaket" bildet der Beobachter mehr oder weniger konkrete Hypothesen; dabei lassen sich starke und schwache Hypothesen unterscheiden.
  • Der Beobachter verarbeitet die wahrgenommene Information und prüft dabei seine Hypothesen.
  • Häufig treten Diskrepanzen zwischen Wahrnehmung und Hypothese auf. In diesem Fall versucht das wahrnehmende Subjekt das kognitive Gleichgewicht wieder herzustellen.
  • Bei starken Hypothesen genügen schon geringfügige Hinweisreize, die an der beobachteten Person wahrgenommen werden, um die Hypothese zu bestätigen. Die Wahrnehmung wird im Sinne der Hypothese interpretiert, ihr also angeglichen.
  • Bei schwachen Hypothesen sind mehr und massivere Hinweisreize aus dem Wahrnehmungsbereich erforderlich, bevor sie bestätigt werden können. Folglich ist es eher möglich und wahrscheinlich, dass die Erwartung der Wahrnehmung angeglichen, also die Hypothese revidiert wird.

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3.0 Implizite Persönlichkeitstheorien in der Praxis des Unterrichts

3.1 Generelle Aspekte

Für die Praxis des Unterrichts sind die dargestellten Zusammenhänge besonders wichtig, weil viele Entscheidungen und Urteile auf sozialer Wahrnehmung beruhen.

Im einzelnen sind die folgenden Aspekte wichtig:

  • Erziehungsleitende Zieldimensionen und Dimensionen der impliziten Persönlichkeitstheorie sind teilweise identisch.
  • Zieldimensionen enthalten auch Vorstellungen über Schülereigenschaften, die in die Zukunft projiziert werden (z.B. Hilfsbereitschaft, kritisches Denken).
  • Die implizite Persönlichkeitstheorie enthält neben Kriteriumsdimensionen auch instrumentelle Dimensionen (z. B. Begabung).
  • Lehrer schließen aus konkret beobachtbaren Schülerverhaltensweisen auf „dahinterliegende'" Persönlichkeitseigenschaften. Dabei fällt auf, dass einzelne Verhaltensweisen für Schlussfolgerungen auf verschiedene Persönlichkeitsaspekte herangezogen werden.
  • Die impliziten Persönlichkeitstheorien enthalten Kategorien, welche Lehrer vor allem auf schulische und familiäre Umweltbedingungen zurückführen. Wahrscheinlich dienen diese Kategorien auch als Ursachenfaktoren, die zur Erklärung von Leistungen und anderen relevanten Schülerereignissen herangezogen werden.
  • Auf der Grundlage von Informationen über Faktoren der impliziten Persönlichkeitstheorie können Erwartungen über zukünftige Schülerereignisse ausgebildet werden.

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3.2 Die Dimensionen impliziter Persönlichkeitstheorie von Lehrern

KLEBER beschreibt im Anschluss an HOFER (1969) f ünf Dimensionen einer impliziten Persönlichkeitstheorie, wie sie bei Lehrern zu beobachten ist.

Sie lauten wie folgt; die Indikatoren für die einzelne Dimension sind lediglich Beispiele.

  • Arbeitsverhalten
    konzentriert, pflichtbewusst, ordentlich ...

  • „Schwierigkeit"
    schüchtern, sensibel, kompliziert ...

  • Begabung
    intelligent, begabt, einfallsreich ...

  • Dominanz
    geltungsbedürftig, ehrgeizig, durchsetzungsfähig ...

  • Soziale Zurückgezogenheit
    verschlossen, ungesellig, einzelgängerisch ...

4.0 Zusammenfassung und Nutzanwendung

Implizite Persönlichkeitstheorien wirken wie eine Kombination aus Filter und Brille:
Einerseits blenden sie aus, andererseits verstärken sie.

Zur Professionalität von Lehrern gehört also,

  • diese Zusammenhänge nicht nur zu kennen,
  • sondern ihnen durch explizites Verhalten entgegenzuwirken,

- also reflexive und selbstkritische Wahrnehmung,
- Beherrschung geeigneter Beobachtungsverfahren,
- Anwendung expliziter Kriterien der Urteilsbildung.

Im Allgemeinen genügt es bereits, auch angesichts des - scheinbar - Selbstverständlichen stets im Bewusstsein zu haben:

Es könnte auch anders sein, als ich auf den ersten Blick meine.

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5.0 Literaturgrundlage

  • Norbert GROEBEN - Diethelm WAHL -   u.a.
    Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien
    Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts
    Tübingen 1988
  • Kurt HELLER - Horst NICKEL - Walter NEUBAUER (Hrsg.)
    Psychologie in der Erziehungswissenschaft
    Band I: Verhalten und Lernen
    Band II: Verhalten im sozialen Kontext
    Stuttgart 1978, 2. Auflage
  • Manfred HOFER
    Die Schülerpersönlichkeit im Urteil des Lehrers
    Weinheim 1969
  • ders.
    Sozialpsychologie erzieherischer Berufe
    Göttingen 1986
  • Eduard W. KLEBER
    Das Lehrerurteil
    in:
    Karl Josef KLAUER (Hrsg.)
    Handbuch der Pädagogischen Diagnostik
    Band 3, S. 589 - 617
    Düsseldorf 1978
  • Gerhard ROTH
    Das Gehirn und seine Wirklichkeit
    Frankfurt 1996/2000, 2., veränderte Auflage
  • ders.
    Fühlen, Denken, Handeln
    Wie das Gehirn unser Verhalten steuert
    Frankfurt 2001
  • Wolf SINGER
    Das Jahrzehnt des Gehirns
    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 300 vom 27. Dezember 1990
  • Diethelm WAHL
    Naive Verhaltenstheorie von Lehrern
    Weinheim 1983

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Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
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