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Thesen zur
Binnendifferenzierung
1.0 Das Problemfeld
Franz E. WEINERT hat
jüngst in einem Aufsatz mit dem Titel Begabung und Lernen" aktuelle
Forschungsergebnisse referiert, die die biologisch-genetischen sowie die
umweltbedingten, sozialkulturellen Faktoren des Schulerfolgs untersuchen
(Neue Sammlung 40/2000, H. 3, S. 353 - 368). Bewusst den Titel des großen, 1968 von
Heinrich ROTH herausgegebenen Gutachtens des Deutschen Bildungsrates aufgreifend,
resümiert er in bemerkenswert ideologiearmer Form empirisch gewonnene Fakten und
Einsichten. Obwohl sie zentrale schul- und bildungspolitische Überzeugungen widerlegen,
können sie dennoch - verständig gelesen - ein uraltes Thema bitteren Streites
entschärfen.
- Einerseits konfrontiert
WEINERT uns Lehrer mit den mächtigen kausalgenetischen Bedingungen"
der kognitiven Kompetenzen und zeigt uns damit die Grenzen eines nicht selten überhöhten
Anspruchs und Selbstverständnisses.
- Andererseits verweist er
darauf, dass es weite, längst noch nicht ausgeschöpfte Handlungsräume und
-möglichkeiten gebe, die individuelle geistige Entwicklung der uns anvertrauten Schüler
zu fördern.
Vor diesem Hintergrund scheint es
gerechtfertigt, dass der Verfasser der Bausteine die folgenden, 1999 von ihm formulierten
Thesen zur Diskussion stellt.
2.0 Die Thesen
1. |
Kein
Schüler ist zu allem befähigt, keine Didaktik kann jeden Schüler alles
lehren. |
2. |
Unterschiede
- welcher Art immer - zwischen Menschen sind eine anthropologische Tatsache. Sie
begründen jedoch keine Wert- oder Rangunterschiede. |
3. |
Leistungsforderungen,
die an Schüler gerichtet werden, sowie die Leistungsorientierung von Schülern schließen
soziales und verantwortungsbewusstes Handeln und Verhalten keineswegs aus. |
4. |
Die
Förderung sozialen Handelns und Verhaltens rechtfertigt es nicht, begründete und in der
Sache notwendige Leistungsstandards preiszugeben. |
5. |
Für
den erfolgreichen Besuch des Gymnasiums ist ein Befähigungsprofil Voraussetzung, das sich
am ehesten als ein Bündel - Cluster" - von mehreren und unterschiedlichen
Eigenschaften verstehen lässt. Die
einzelnen Elemente dieses Clusters können individuell unterschiedlich ausgeprägt und
entsprechend vielfältig kombiniert sein, doch darf keines unterentwickelt sein oder gar
fehlen. Zu diesem Cluster gehört auch intellektuelle Befähigung. Der gängige
Intelligenzbegriff greift jedoch zu kurz, ist missverständlich und darum als fundierender
Begriff nicht geeignet.
Mithin sind Lerngruppen im Gymnasium heterogen
zusammengesetzt, doch darf die Spannweite dieser Heterogenität nicht beliebig groß sein.
Gymnasiale Lerngruppen müssen insofern relativ homogen" sein, als jeder
ihnen angehörige Schüler über die o.g. Elemente eines Befähigungsprofils verfügen
muss, das den Anforderungen der Abiturprüfung entsprechen kann.
Didaktik kann in der Veranlagung von
Individuen fehlende Potentiale nicht nachträglich schaffen, sondern muss sich damit
bescheiden, vorhandene Potentiale anzusprechen und ihnen zur Entfaltung zu verhelfen. Das
ist eine große Aufgabe. Didaktisches Geschick ist jedoch vor allem dann gefragt, wenn
Potentiale vorhanden sind, aber in der individuellen Entwicklung gleichsam verschüttet
wurden.
In verkürzender Betrachtung wird oft
eine nicht hinreichende Intelligenz" als Ursache schulischer Misserfolge im
Gymnasium geltend gemacht. Meist werden diese jedoch durch - oft äußere - Faktoren
verursacht, die den einzelnen daran hindern, von seiner Intelligenz erfolgreichen Gebrauch
zu machen. |
6. |
Der
Begriff der Leistung ist problematisch, weil er ideologisch leicht missbraucht und
verfälscht werden kann, und deshalb auch umstritten. Dennoch darf das nicht dazu führen,
die Leistung aus dem erzieherischen und didaktischen Feld zu eliminieren. Hier bedarf der
Leistungsbegriff freilich einer besonders sorgfältigen Legitimation. Für eine Verständigung können folgende Aspekte
hilfreich sein. |
|
a)
Leistungsfähigkeit, Leistungshaltung und erbrachte Leistung sind eine
anthropologische Grundnotwendigkeit, weil ohne sie das Leben und
Überleben
des Individuums nicht möglich wären.b) In entwickelten und deshalb wertorientierten
Gesellschaften ist Leistung
dennoch nicht das alleinige - also auch nicht das hinreichende -
Kriterium,
das die personale Würde des Individuums begründete.
c) Rang und Stellung eines Individuums in
der Gesellschaft sind in Geschichte
und Gegenwart unterschiedlich begründet und legitimiert worden. Nach
demokratisch fundiertem Verständnis scheiden soziale und / oder
biologische
Herkunft, Reichtum u.ä. als Kriterien aus.
d) Mithin bleibt als einzige Möglichkeit
für demokratisch legitimierte
Rangunterschiede die individuelle Leistung. Die Schwierigkeit,
den Begriff
Leistung sinnvoll zu bestimmen sowie seinen Missbrauch zu
verhindern,
reicht nicht dazu aus, diese These zu entkräften.
e) Insbesondere ist es ein Missbrauch des
Begriffes Leistung, wenn er zur
Legitimation von Egoismus in Anspruch genommen wird. Leistung ist
vielmehr
die Voraussetzung sozialen und solidarischen Handelns und
Verhaltens. |
7. |
In
keinem Lebensalter bleibt es Menschen erspart, sich selbst mit anderen Menschen zu
vergleichen oder mit anderen Menschen verglichen zu werden. Immer wird es Menschen mit
höherer und mit geringerer Leistungsfähigkeit geben. Entscheidend wichtig ist jedoch
für jeden Menschen das Bewusstsein eigener Leistungen. Schüler mit - aus welchen Gründen immer - gering
ausgeprägter Leistungsfähigkeit können in relativ homogenen" Lerngruppen
eher Erfolgserlebnisse haben als in Lerngruppen mit hochleistungsfähigen
Mitschülern.
Das Bewusstsein, einer
Doofen"-Klasse anzugehören, ist für das Selbstbewusstsein weniger abträglich
als das ständige Erleben hoher Befähigung bei Mitschülern. Deren Gegenwart ist
keineswegs so anregend, wie edelmütiges Wunschdenken oft behaupten lässt. Meist
übersehen oder verleugnet wird jedoch die entmutigende und lähmende Wirkung, die von der
Konfrontation mit Befähigungen ausgehen können, die selbst zu erlangen man nie zu hoffen
wagen darf. |
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Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08
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