Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]

Angst - eine natürliche Regung

Vier Grundformen und ihre Deutung

1.0 Der Problemhorizont

Angst gehört notwendig zum Leben der Menschen. Sie ist ein Bestandteil des menschlichen Daseins; sie zu erleben ist normal.

Angst tritt immer dann auf, wenn wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Das gilt insbesondere für wichtige Entwicklungs- und Lebenssituationen, die einen Menschen, in welchem Alter auch immer, vor neue und bislang nicht gelöste Aufgaben stellen. Deshalb begleitet uns Angst durch unser ganzes Lebens und tritt in den verschiedensten Erscheinungsformen und Gestalten auf.

Betrachtet man Angst „ohne Angst", so zeigt sich, dass sie einen Doppelcharakter hat. Angst kann uns lähmen, Angst kann uns auch aktivieren. Auch wenn wir unserer Angst nicht bewusst sind, hat sie Einfluss auf unser Empfinden und Handeln. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, Einsicht in das Wesen der Angst zu gewinnen, damit wir sie bannen und, wenn möglich, fruchtbar machen können.

2.0 Die Antinomien des Lebens

Menschliches Leben und dessen Gestaltung unterliegt vier Grundforderungen, die einander als polare Gegensätze zugeordnet sind. So ergeben sich zwei Paare von antinomisch aufeinander bezogenen Forderungen, die einander ergänzen. Sie lauten wie folgt:

1. Wir sollen ein einmaliges Individuum werden, unser Eigensein bejahen
und uns gegen anderes Eigensein abgrenzen.
2. Wir sollen uns der Welt, dem Leben und den anderen Menschen vertrauend öffnen und uns auf sie einlassen. Das bedeutet - im weitesten Sinne des Wortes - Hingabe an das Leben.
3. Wir sollen Dauer anstreben. Das bedeutet, mit Beständigkeit zu rechnen,
Pläne zu machen und zielstrebig zu verwirklichen.
4. Wir sollen bereit sein, uns zu wandeln, Veränderungen und Entwicklungen
zu bejahen, Vertrautes und Gewohntes aufzugeben.

Jede der in diesen Antinomienpaaren enthaltenen Forderungen des Lebens mutet uns viel zu.

Deshalb lösen sie in unserer Seele Angst aus.

Die Ursache dafür:
Wir müssen die vier Grundforderungen zugleich erfüllen und abwehren, denn:

  • Wir sollen sowohl die Selbstbewahrung und Selbstverwirklichung leben als auch die Selbsthingabe und Selbstvergessenheit.

  • Wir sollen zugleich sowohl nach Dauer als auch nach Wandlung streben.

3.0 Die vier Grundformen der Angst

Mithin entsprechen den vier Forderungen, die an unsere Lebensgestaltung gerichtet werden, vier Grundformen von Angst. Sie lassen sich in idealtypischer Betrachtung wie folgt beschreiben.

  • Angst vor der Selbsthingabe
    - erlebt als Ich-Verlust und Abhängigkeit.

  • Angst vor der Selbstwerdung
    - erlebt als Ungeborgenheit und Isolierung.

  • Angst vor der Wandlung
    - erlebt als Vergänglichkeit und Unsicherheit.

  • Angst vor der Notwendigkeit
    - erlebt als Endgültigkeit und Unfreiheit.

4.0 Die Lebensaufgabe - ein Gleichgewicht herstellen

Grundsätzlich ist uns die Aufgabe gestellt, zwischen den beiden Strebungen und Gegenstrebungen ein Gleichgewicht herzustellen. Das kann jedoch nie ein Zustand sein, sondern nur ein Ziel, so dass es stets eine starke Dynamik von Gelingen und Noch-nicht-Gelingen sowie der entsprechenden Ängste gibt. Alle möglichen Ängste sind Varianten dieser vier Grundängste und hängen eng mit den vier Grundforderungen zusammen.

5.0 Angst und Persönlichkeit

Jeder Mensch erlebt - abhängig von der ihm jeweils gestellten Aufgabe - jede der beschriebenen Grundängste und muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Art und Intensität der von uns erlebten Angst hängen eng mit der Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Menschen zusammen, wie sie sich in der Wechselwirkung von Anlagen, Umwelteinflüssen und Erlebnissen herausgebildet hat.

Der in seiner Entwicklung nicht gestörte, also seelisch „gesunde" Mensch kann mit seinen Ängsten umgehen und sie bewältigen. Der Gestörte erlebt Ängste häufiger und intensiver; dabei ist eine der Grundformen wesentlich stärker ausgeprägt als die übrigen. Je früher die Störung gesetzt wurde, desto geringer war die Möglichkeit, sie zu verarbeiten, desto nachhaltiger sind ihre Wirkungen.

Die Grenzen zwischen bewältigten, leichten und schweren Störungen sind fließend. Bei deren Analyse haben sich vier Formenkreise der Persönlichkeitsstruktur herausgestellt. Sie sind grundsätzlich als vier Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins zu verstehen. Weil das natürlich ist, sind sie kein Gegenstand einer Bewertung, sondern bei jedem Menschen als Grundtönung seines Wesens vorhanden. Erst bei ausgeprägter Gestörtheit müssen sie als Erkrankung - als Neurose - verstanden werden. Dann bedarf es professioneller Hilfe.

6.0 Empfehlung

Der Vorbereitungsdienst wird Ihnen viele Forderungen stellen, weil Sie einen anspruchs- und verantwortungsvollen Beruf gewählt haben. Sie müssen

  • sich neuen Aufgaben stellen,

  • sich zu einer Persönlichkeit entwickeln,
    die Sie jetzt - vielleicht - noch nicht sind,

  • bereit sein, sich zu ändern,

  • vorgegebene Notwendigkeiten akzeptieren.

Welcher dieser vier Aspekte Ihnen am schwersten fällt und deswegen am ehesten Angst macht, ist gleichgültig. Erleben Sie diese Angst nicht als persönliche Schwäche, sondern als natürliche Reaktion. Nehmen Sie die Herausforderung an - keiner der vier Aspekte wird mehr von Ihnen verlangen, als Sie zu leisten vermögen. Wenn die Angst jedoch überhaupt nicht weichen will, sollten Sie nicht zögern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

7.0 Literaturgrundlage

Fritz RIEMANN
Grundformen der Angst
Eine tiefenpsychologische Studie.
München/Basel 1987


Home ] Nach oben ] Zurück ] Weiter ]


Ausgearbeitet von:     Dr. Manfred Rosenbach -        letzte Änderung am: 15.01.08
-