Die Bezugsnormen der Leistungsbeurteilung Übersicht 1.0 Welcher Maßstab soll gelten? Die Beurteilung jedes Lernenden beruht (oder sollte es jedenfalls) auf Informationen, die für dessen Beurteilung wichtig erscheinen. Mithin muss man diese Informationen bewerten können. Das ist nur möglich, wenn es eine Größe gibt, mit der man sie vergleichen kann. Für diese Größe hat sich der Ausdruck Bezugsnorm eingebürgert (INGENKAMP 1985, S. 44). Nicht nur in der pädagogischen Psychologie, sondern auch in der normalen Schulpraxis ist es für alle Beteiligten wichtig, ein Lernergebnis zu mehreren und dabei von einander verschiedenen Bezugspunkten, d.h. Maßstäben oder Normen, in Beziehung setzen zu können. Nur so kann die jeweilige Information zutreffend interpretiert und ausgewertet werden. In der Regel ist eine Information zu mehreren Normen in Beziehung zu setzen; dabei können sie einander ergänzen, aber auch einander widersprechen. Das gilt vor allem für schulische Bezugsnormen. 2.0 Bezugsnormen in der Schule Die Leistung eines Lernenden kann man in erster Linie mit seiner Anfangsleistung vergleichen; die Bezugsgröße liegt also innerhalb der Person. Außerdem kann (und muss) sie auch zu außerhalb der Person liegenden Größen in Beziehung gesetzt werden. Das sind einerseits die Sache und die mit ihr gesetzten Lernziele (Kriterien), andererseits die Lernleistungen einer Gruppe von Lernenden. Daraus ergeben sich drei Bezugsnormen:
Wer eine aktuelle Lernleistung richtig einschätzen will, muss wissen, wie schwer die gestellte Aufgabe war. Nur dann kann er z. B. feststellen, ob ein Lernender sich verbessert oder verschlechtert hat. Also muss er sie auch mit den entsprechenden Lernleistungen anderer Lernender vergleichen. Das allein genügt nicht, denn der Grad einer Lernleistung hängt zusätzlich von dem gesetzten Lernziel ab. Und hinter dieser Bezugsgröße steht noch die Frage des Standards, also des Niveaus, das unabhängig von bestimmten lernenden Personen vorgegeben ist und eingehalten werden soll. Im Folgenden werden die einzelnen Bezugsnormen auf ihre Funktion, Aussagekraft und pädagogische Bedeutung näher untersucht. 3.0 Die Sozialnorm In der Schulpraxis werden die Leistungen des einzelnen Schülers zunächst auf die Bezugsgruppe und deren Leistungsdurchschnitt bezogen. Das scheint auf den ersten Blick geradezu natürlich zu sein, weil die Leistung des einzelnen in die jeweilige Lerngruppe eingebettet ist und im Übrigen der Wunsch oder auch die Forderung nach Gerechtigkeit" beachtet werden muss. Vor allem anderen ist der Begriff Bezugsgruppe zu klären. Er bezeichnet alle Menschen einer Region, die durch vorgegebene Merkmale definiert sind, z.B. alle Schüler der siebenten Jahrgangsstufe der Gymnasien in Berlin oder gar in der ganzen Bundesrepublik. Sofern nicht die ganze Bezugsgruppe untersucht werden kann, ist eine Eichstichprobe zu untersuchen; sie muss strengen methodischen Anforderungen genügen. Eine einzelne Klasse oder auch eine ganze Klassenstufe in einer bestimmten Schule ist immer nur eine - statistisch gesehen, sehr kleine - Stichprobe aus der Bezugsgruppe. Der Vergleich von bestimmten Merkmalen und deren Ausprägung bei allen Individuen einer Bezugsgruppe dient insbesondere statistischen Zwecken. Dabei wird erstens angenommen, dass die jeweils untersuchten Variablen normal verteilt" sind, so dass die graphische Darstellung des Ergebnisses die Gaußsche Glockenkurve ergibt. Zweitens wird vorausgesetzt, dass die untersuchten Eigenschaften des Individuums als Abweichungen von einem Mittelwert, dem arithmetischen Mittel der Stichprobe, verstanden werden können. 3.1 Die Sozialnorm als Grundlage für die Beurteilung schulischer Leistungen In der Schulpädagogik ist die Beurteilung von Schülerleistungen nach der Sozialnorm dann gegeben, wenn es darauf ankommt, Entscheidungen über Auslese, Platzierung u.Ä. korrekt zu treffen. Dazu müssen die Einzelleistungen mit denen in der gesamten Bezugsgruppe objektiv, gültig und zuverlässig verglichen werden. Als Grundlage der Leistungsbeurteilung in der normalen Lerngruppe (Schulklasse, aber auch Jahrgang einer Schule) ist sie pädagogisch und psychologisch problematisch.
4.0 Die Sach-(Ideal-)norm Diese Norm bezieht sich auf die Sache; daher die Bezeichnung bei INGENKAMP (1985, S. 44). Weil sie reale Leistungen mit idealen Leistungen, der optimalen Erreichung von Lernzielen, vergleicht, heißt sie bei GAUDE (1989, S. 126) Idealnorm. Andere Autoren sprechen von kriterienbezogener Norm. Der Vergleich mit anderen Schülern interessiert hier höchstens am Rande, entscheidend ist der Grad, in dem ein Lernziel erreicht worden ist.
5.0 Die Individualnorm Diese Beurteilung erfasst den Lernzuwachs des Lernenden in einem bestimmten Zeitraum.
6.0 Folgerungen In der einschlägigen Literatur wird immer wieder, zuletzt bei GAUDE (1989), der - z.T. sehr massiv formulierte - Vorwurf erhoben, die Lernleistungen der Schüler würden ausschließlich nach der Sozialnorm bewertet. Dem entspricht die Forderung (GAUDE; a.O. S. 128 f., mit Literaturnachweisen), die Sachnorm anzuwenden, so weit nicht die Individualnorm angewandt werden könne. 6.1 Berliner Situation Das Berliner Schulgesetz bindet die gesamte Leistungsbewertung durch die Definition der Notenstufen (§ 27 Abs. 1 Nr. 2) an die Erfüllung der Anforderungen und macht die Notenstufe von dem Grad abhängig, in dem die Anforderungen erfüllt oder auch verfehlt worden sind. Das entspricht der von Erziehungswissenschaftlern (zuletzt GAUDE, 1989, passim, vor allem S. 146 ff.) Forderung, von der Sachnorm auszugehen. Die Sozialnorm wird jedoch in die
Leistungsbeurteilung einbezogen. So ist in Nr. 2 Abs. 2 Satz 3 der
'Ausführungsvorschriften über Schriftliche Klassenarbeiten' (DBl. III Nr. 4 vom 4. 5.
1990, S. 71, geändert durch VV vom 18. 8. 1994, DBl. III Nr. 5. S. 129) vorgeschrieben: Die für das Abitur geltenden Vorschriften fordern für die Prüfungsklausuren einen Erwartungshorizont. Sie geben ferner ein Bewertungsmuster vor, das die Erfüllung der Anforderungen und damit die Sachnorm zu Grunde legt. 6.2 Die Verantwortung der Lehrer Der Begriff der Anforderungen wird somit zum Zentrum einer pädagogisch begründeten und zugleich rechtlich einwandfreien Leistungsbeurteilung. Das bedeutet eine große Verantwortung und zugleich Herausforderung für den einzelnen Lehrer wie die Lehrerschaft insgesamt. Ihr kann nur durch Kompetenz und Professionalität entsprochen werden. 6.3 Alle drei Bezugsnormen sind bedeutsam Im Zusammenhang mit der Leistungsbeurteilung entsprechen Lehrer dieser Forderung, indem sie die spezifischen Leistungen jeder der drei Bezugsnormen kennen und deren spezifische Schwächen berücksichtigen. Keine der drei Normen darf absolut oder isoliert verwendet werden, vielmehr müssen ihre Aussagen einander durch Kombination ergänzen. Schüler, ihre Eltern und andere Personen oder Institutionen mit berechtigtem Interesse haben einen Anspruch darauf, nicht nur zu wissen, wie ein Schüler im Verhältnis zu anderen Schülern steht oder wie sich seine Leistungen entwickelt haben, sondern auch, was er tatsächlich weiß und auf welchem Niveau seine Kenntnisse und Fähigkeiten sich befinden. 7.0 Schlussbemerkung Grundsätzlich ungelöst bleibt die Frage nach den Standards. Sie stellt sich immer wieder von Neuem und muss im Einzelnen immer wieder neu beantwortet werden. Und im Zusammenhang damit ist das Grundproblem jeder Leistungsbeurteilung mit keiner Betrachtungsweise, keiner Bezugsnorm und keinem Beurteilungsverfahren aus der Welt zu schaffen. Es folgt aus der Spannung, die immer zwischen den beiden Polen besteht, nämlich
Individuum und Gesellschaft sind dialektisch aufeinander bezogen.
[ Zurück zur
Übersicht ] Ausgearbeitet von: Dr. Manfred Rosenbach -
letzte Änderung am: 15.01.08 |